Gemischte Filial- und Franchise-Systeme: Zufall oder Strategie?
Von den rund 900 Franchise-Systemen in Deutschland hat nur etwa ein Viertel mehr als 20 Franchise-Nehmer (FN). In dieser Gruppe der stabilen, leistungsfähigen und zukunftssicheren Systeme besteht ein beträchtlicher Teil aus gemischten Filial- und Franchise-Systemen. In Anbetracht der unbestrittenen Vorteile des Franchising hinsichtlich des unternehmerischen Engagements an der Front, des Kapitalbedarfs für Expansion und des Kontrollaufwands erscheinen auf den ersten Blick Mischsysteme als Widerspruch in sich. Dagegen spricht nach den Erkenntnissen der Praxis manches für eine Synthese der beiden konkurrierenden Vertriebsformen – ganz abgesehen von Pilotbetrieben, die wegen des experimentellen und demonstrativen Charakters generell als Filiale geführt werden.
Mischsysteme haben zwei Quellen: Filialisten und Franchise-Geber (FG). Immer mehr Filialisten wenden sich dem Franchising zu, verfolgen also in der Absatzpolitik eine Doppelstrategie. Sie verdichten ihr Vertriebsnetz im Inlandsmarkt durch Franchise-Betriebe, indem sie in potenzialschwachen Gebieten FN einsetzen oder Filialen auf Grenzstandorten “privatisieren”, d.h. an FN (überwiegend die bisherigen Filialleiter) verkaufen. Aufgrund des hohen unternehmerischen Engagements und Kostenbewusstseins kann ein FN in vielen Fällen dort noch gut existieren, wo sich eine Filiale nicht mehr rechnet. Beipiele zeigen, dass es nach einer Privatisierung bei einer ansonsten unveränderten Konstellation durchaus zu einem bis zu 10 % höheren Umsatz sowie einen bis zu 15 % höheren Rohgewinn kommen kann und sich die Iventurdifferenz halbieren kann. Daher können Filialisten mit Franchising schwache Betriebe revitalisieren und zugleich einen Teil der weißen Gebiete abdecken.
Abgesehen davon nutzen Filialisten Franchising im Rahmen der internationalen Expansion . Mit dieser Vertriebsform können sie bei geringem Kapitaleinsatz neue Märkte relativ schnell abdecken. Häufig geschieht das gemeinsam mit einem nationalen Joint-Venture-Partner. Verstärkte internationale Aktivitäten von Filialisten können dazu führen, aus Gründen der Kapitalfreisetzung zugleich den Inlandsanteil der Franchise-Betriebe zu erhöhen.
Die zweite Quelle für Mischsysteme sind erfolgreiche Franchise-Geber (FG). Sie suchen renditestarke Anlageobjekte für ihre erwirtschafteten Gewinne. Da die Eigenkapitalrendite in Handel und Dienstleistung wesentlich höher ist als die Rendite von Finanzanlagen, bietet es sich an, das eigene Geld in der eigenen Kette zu investieren. Dort kennt man das Metier und hat sein Kapital unter ständiger Kontrolle. Für den FN bedeutet das verstärkte finanzielle Engagement des FG zugleich eine Stärkung seines Vertrauens in die Marktchancen des Systems.
Zu verstärkten Investitionen in das Vertriebsnetz kommt es gelegentlich auch dann, wenn sich im Rahmen der allgemeinen Konzentration Konzerne an Franchise-Systemen beteiligen und somit ausreichend Kapital zur Verfügung steht. In diesem Fall kann der Aspekt der höheren Wertschöpfung dazu dienen, einen wesentlichen Anteil der Vertriebsstellen als Filialen auszugestalten. Im Interesse der breiten Potenzialausschöpfung bleibt jedoch in der Regel der Stellenwert der Franchise-Betriebe als zweites Bein erhalten.
Sowohl die Integration eines Franchise-Systems in ein Filialsystem als auch die Anreicherung eines Franchise-Systems mit Filialen haben also unter bestimmten Voraussetzungen klare strategische Vorteile. Investition und Zeitbedarf für Entwicklung und Test des zusätzlichen Vertriebs-Modells sind gering, weil die Infrastruktur sowie die Werkzeuge vorhanden sind und die Prozesse bereits reibungslos laufen. Funktional besteht kein Unterschied zwischen einer Filiale und einem Franchise-Betrieb. Erscheinungsbild, Sortiment und Logistik sind identisch. Der Unterschied liegt auf den Feldern “Preisbildung” und “Führung”.
Im klassischen Franchising ist der FN Eigenhändler und hat somit grundsätzlich die Preishoheit. Unter bestimmmten Voraussetzungen kann die Zentrale unverbindliche Preisempfehlungen abgeben. Grundsätzlich werden auch Agenturmodelle eingesetzt. In der Praxis ist das Thema “Preispolitik” erfahrungsgemäß kein gravierendes Problem.
Hinsichtlich der Führung sind die Anforderungen grundverschieden. Braucht der Filialist für die Steuerung der Filialen einen “Feldwebel”, so benötigt er für seine Franchise-Partner einen “Missionar” mit Charisma und Erfahrungen in der kooperativen Führung. Für die Betreuung der Franchise-Partner sind anstelle der Außendienstmitarbeiter Systemberater notwendig. Sie fungieren im Gegensatz zum Außendienst als “Hinausverkaufshelfer”. Das Hineinverkaufen entfällt, weil die Bezugsquote im Franchise-Vertrag geregelt ist.
Franchising bedeutet somit für einen Filialisten nicht in jedem Fall höhere Kosten, sondern gewöhnlich lediglich eine Umschichtung . Soweit durch Parallelsteuerung, intensivere Betreuung und ständige Qualifikation der FN ein höherer Aufwand entsteht, wird er gewöhnlich kompensiert durch einen geringeren Kontrollaufwand. Der FN hat eigenes Geld investiert. Er arbeitet in die eigene Tasche und kontrolliert sich somit weitgehend selbst.
Das für Franchising generell typische Problem der Rekrutierung und kooperationsorientierten Selektion von Partnern entfällt in franchisierenden Filialsystemen weitgehend dadurch, dass bisherige Filialleiter zu Franchise-Unternehmern aufsteigen. Sie ergreifen die Chance der persönlichen Weiterentwicklung. Bedenken hinsichtlich des Risikos treten gewöhnlich in den Hintergrund, weil der Filialleiter das Geschäftskonzept seit langem kennt und die Risiken gut einschätzen kann. Besonders gering ist das Risiko bei der Privatisierung . Da sich für den Kunden nichts ändert, sind Umsatzeinbußen nicht zu fürchten. Der bisherige Filialleiter kann also mit einem fliegenden Start in die Selbstständigkeit rechnen.
©copyright 16.07.12 Dr. Hubertus Boehm